Dieses Buch war ein kleines Highlight für mich. Auf nur knapp 200 Seiten begibt sich Henning Sussebach auf die literarische Spurensuche seiner Urgroßmutter. Trotz vieler Lücken in ihrer Biografie und nur wenigen Quellen, rekonstruiert er anhand von Fotos, Postkarten und Verlobungsringen das Leben einer selbstbestimmten Frau und eine berührende Alltagsgeschichte.

Anna tritt 1887 ihre Stelle als Lehrerin im Sauerland an, doch schon bald widersetzt sie sich den starren Regeln ihrer Zeit: Sie heiratet, wird früh verwitwet, übernimmt Post, Hof und Gastwirtschaft, zieht ihren Sohn allein groß und heiratet noch einmal. Kleine Lebensentscheidungen, die wahrscheinlich unbewusst zu Annas Zeiten ein großes gesellschaftliches Gewicht schaffen.

Das Buch bewegt sich zwischen Biografie, Reflexion des Autors und literarischer Imagination. Sussebach bleibt journalistisch genau, wo Quellen vorhanden sind, und wagt dort behutsame Fiktionen, wo Lücken bleiben – immer im Respekt vor dem Nicht-Wissen, ohne zu spekulieren.

Sussebachs Ton ist leise und emphatisch. Er erzählt präzise, sachlich und unaufgeregt. Dennoch wurde Anna in vielen Punkten greifbar. Sussebach hat uns eine Geschichte geschenkt, die längst vergessen sein sollte, mit vielen Ungewissheiten, aber gerade das macht sie so besonders.

Dieses Werk ist kein großes Familienepos, sondern eine stille Hommage an eine Frau „ohne Namen im Zeitsturm“. Subtile Andeutungen verweben lokale Dorfgeschichte mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen – so entsteht ein Bild, das über die individuelle Biografie von Anna hinaus geht und gesellschaftliche Spannungen und Entwicklungen ihrer Zeit wiedergibt. Und darüberhinaus auch das Zeugnis einer Suche nach den eigenen Wurzeln.

Eine ganz große Leseempfehlung!

"Wir unterschätzen so viele gelebte Leben!"