Buchtipp des Monats
Rezension von textart-admin
19. Januar 2025
2 Min. Lesezeit

Vierundsiebzig

von Ronya Othmann, erschienen im März 2024 im Rohwolt Verlag auf 512 Seiten. Erhältlich für 26,00 EUR

ISBN: 978-3-498-00361-6/Anzeige

Vierundsiebzig von Ronya Othmann ist ein Buch mit über 500 Seiten, das die 74 Massenmorde an den Jesiden dokumentiert. Am 19. Januar 2023 wurde der Genozid 2014 an den Jesiden von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) offiziell von der Deutschen Bundesregierung anerkannt.

"Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt."

Othmann nimmt uns mit zu den Anfängen in 2014, als der IS im nordirakischen Shingal die Jesiden zwingt, sich zum Islam zu bekennen. Alle, die sich weigern, werden getötet, Tausende von Frauen und Mädchen verschleppt, Dorfgemeinschaften ausgelöscht. Es ist der Beginn des systematischen Völkermords.

"Alles geht verloren, sagt mein Vater. Und es beginnt mit der Sprache."

Othmann selbst reist in die Türkei, in den Irak und Iran. Mit ihrem Vater besucht sie den Shingal, wo noch keine Sicherheit herrscht. Die verlassenen Dörfer in Trümmer liegen. Sie spricht mit Freunden und Verwandten, die noch vor Ort leben, besucht Gedenkstätten in den kurdisch-jesidischen Gebieten und ist die ganze Zeit über auf der Suche.

"Die Frage nach dem Warum ist keine Frage. Sie ist ausformulierte Sprachlosigkeit."

Auf der Suche nach Wegen, eine Sprache für das Geschehene zu finden und eine Form für ihr Buch. Als Roman würde ich 74 nicht bezeichnen. Für mich ist es so viel mehr und für Fiktionales gibt es keinen Raum. Othmann dokumentiert ihre Reisen, Gedanken, Gespräche. Berichtet über Gerichtsverfahren und Urteile. Versucht selbst alles in ein großes Bild zu bekommen und kämpft immer wieder mit der Fassungslosigkeit vor der Gewalt und Brutalität der Morde an den Jesiden.

Als Tochter eines syrisch-kurdisch-jesidischen Vaters kennt sie bereits die schmerzhafte Vergangenheit der Jesiden. Hat sich in diesem Buch aber noch einmal sehr persönlich mit den Geschehnissen befasst, die die Welt zu schnell wieder vergessen hat und die bis heute nachwirken. Unzählige Menschen sind bis heute vermisst.

"Aber wie erzählt man von den Toten und wie von den Verschwunden, die in diesem Niemandsland, dieser Schwebe zwischen Leben und Tod festhängen? Jeder Text, den ich schreibe, kann nur unvollständig sein, wenn nicht gar völlig irreführend."

74 war auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2024. Ich habe es im Dezember letzten Jahres begonnen und mit in das neue Jahr genommen. Die Härte der Genozide, über die sie berichtet, muss man aushalten können, für mich wird es aber eins der wichtigsten Bücher sein, die ich dieses Jahr gelesen habe.

"Was ich schreibe, hat keine Ordnung. Worte, Sätze, die abbrechen, im Nichts verlaufen. Ich nähe, füge zusammen. Dass etwas mit Großbuchstaben anfängt und mit einem Punkt endet. Dazwischen ein Komma, vielleicht ein Halbsatz, der sich auf das eben Gesagte bezieht. Wieder Großbuchstaben und Subjekt, Verb, Objekt bis zum nächsten Punkt. Absatz für Absatz. Ich habe keine Sprache."

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